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Face to Face

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Antoine d’Agata, Tina Bara, Valérie Belin, Clement Cooper, Bernhard Fuchs, Rince De Jong, Leo Kandl, Tomasz Kizny, Nina Korhonen, Anett Stuth, Mette Tronvoll

>18.09.–31.10.2002

»Gegenüber – Menschenbilder in der Gegenwartsfotografie« ist ein Ausstellungsprojekt der Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz und des FOTOHOF. Als Ergebnis einer gemeinsamen Recherche beider Institutionen werden Arbeiten von insgesamt elf europäischen Fotokünstler:innen gezeigt, die sich mit der unmittelbaren Darstellung des Menschen beschäftigen.
Die zur gleichen Zeit in der Landesgalerie Linz und im FOTOHOF stattfindenden Ausstellungen präsentieren Arbeiten von Antoine d’Agata (F), Tina Bara (D), Valérie Belin (F), Clement Cooper (GB), Bernhard Fuchs (A), Rince de Jong (NL), Leo Kandl (A), Tomasz Kizny (PL), Nina Korhonen (S), Anett Stuth (D) und Mette Tronvoll (N).

Neben Architektur und Landschaft erweist sich die Auseinandersetzung mit dem Porträt als ein Schwerpunkt in der Gegenwartsfotografie. Jede der elf vorgestellten Positionen verfolgt ein eigenes ikonografisches Anliegen in der Beschäftigung mit einem Gegenüber. Das Ausstellungsprojekt versucht, sich diesem Phänomen durch die Analyse künstlerischer Konzepte und Herangehensweisen an das Menschenbild anzunähern.

Das Einlassen auf den Anderen ist immer auch ein Austausch im Sinn einer Vergewisserung der Personen als Teile eines sozialen Umfelds. Gemeinsam ist den Künstler:innen das Interesse an der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber als Auseinandersetzung mit sich selbst wie auch der Gesellschaft, in der sie leben und arbeiten. Unbedingtes Interesse, analytische Reflexion wie auch authentische persönliche Betroffenheit sind ebenso kennzeichnend wie die Faszination an der ungebrochenen Kraft der Fotografie, die Welt und die Zeit exemplarisch ins Bild zu setzen.

Die verschiedenen künstlerischen Positionen reichen von einer sachlich betonten Dokumentarhaltung (Stuth, Fuchs, de Jong, Kizny) bis hin zu einer inszenatorischen Annäherung an die Dargestellten (Bara, Belin), die auch explizit die Reflexion des fotografischen Abbildungsprozesses mit einschließen kann (Tronvoll). Autobiografische Ansätze (Korhonen, Cooper), wie auch das psychologische Moment im Wechselspiel von Fotograf und Modell (Kandl) spielen eine wichtige Rolle. Das Gegenüber als Einzelperson aus einer gesellschaftlichen Gruppe, der mit (rassistisch motiverter) Ablehnung begegnet wird, steht im Zentrum des Interesses von Antoine d’Agatas neue Serie.

Rince De Jong, aus der Serie: »Lang Leven«

Antoine d'Agata

»Jegliche Photographie ist die Beglaubigung von Präsenz.« Der von Barthes formulierte Authentizitätsanspruch der Fotografie ist in Zeiten von manipulierten, digital bearbeiteten Bildern längst in seiner Gültigkeit unterlaufen. Die Suche nach Authentizität, Objektivität und der Dokumentation von Wirklichkeit wurde in der Fotografie vielfach abgelöst von der Frage der Konstruktion von Realität, von Fiktionalisierung und Wahrnehmungsmodellen, die von der Omnipräsenz medialer, häufig auch manipulierter Bilder gesteuert werden und die gesellschaftliche Identität prägen. Fotografie ist- und war es schon vor der Möglichkeit digitaler Bearbeitungen – immer auch Interpretation. Dennoch gibt es in der zeitgenössischen Fotografie erneut Bemühungen, gerade die Barthessche Unmittelbarkeit des menschlichen Abbilds und die damit verbundenen Bestrebungen nach der Darstellung vergangener Realität zu thematisieren. Der Großteil der in der Ausstellung versammelten Arbeiten vermitteln diese Intentionen sehr deutlich. Der französische Fotograf Antoine d’Agata ist von den vertretenen Künstler:innen der einzige, der digital bearbeitete Fotografien zeigt. Trotz der Verwendung digitaler Montagetechniken ist die schlüssige Darstellung sozialer Wirklichkeit im Süden Frankreichs Thema seiner Arbeit. Ausgangspunkt der erstmals gezeigten Serie »PSYCHOGEOGRAPHIE« war ein Bauvorhaben der Stadt Marseille zur Umgestaltung eines zentralen Stadtteils. D’Agata, der selbst aus Marseille stammt, verknüpft in digitalen Bearbeitungen Ansichten von Abbruchhäusern, Stadtautobahnen und andere charakteristische urbane Motive mit den Porträts von Jugendlichen, die eine Schule in dem betroffenen Stadtteil besuchen. Zu den Bildern stellt er Zitate, die in mehr oder weniger konkretem Bezug zu politischen und sozialen Problemstellungen der Stadt Marseille stehen. Sie stammen von Politikern, Journalisten und einflussreichen Vertretern der Wirtschaft aus historischen sowie aktuellen medialen Quellen und lassen die vielfältigen Wurzeln des Rassismus erahnen. In den meisten Fällen stehen die extremen politischen Inhalte der Zitate in Kontrast zu den beinahe poetisch anmutenden Verknüpfungen von architektonischer Situation und den Figuren der Jugendlichen.

Tina Bara

In der Serie »Matura« porträtierte Tina Bara eine Reihe junger Mädchen in inszenierten Posen nach Abbildungen, die sowohl aus der kommerziellen Werbe- oder Modefotografie als auch der künstlerischen Porträtfotografie stammten. Die Auswahl von zwei Vor-Bildern war den Mädchen überlassen. Zu den Fotografien gehören Texte, die allerdings auf getrennten Tafeln neben den Bildern präsentiert werden. Das Verhältnis von Bild und Text hat in den Arbeiten Tina Baras in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Texte geben den Porträtierten eine Stimme, intensivieren die Aussage des Bildes und verdeutlichen gleichzeitig eine zunehmend systematisch-reflexive Arbeitsweise der Künstlerin sowie ihr soziales und psychologisches Interesse am Gegenüber. Wie in der Malerei ist auch in der Fotografie die Entscheidung für einen Titel bereits die Entscheidung für die Preisgabe einer zusätzlichen Information. Insofern gibt der Titel der Serie »Matura« bereits einen Hinweis auf das Alter und die spezifische, von Entscheidungen und Veränderungen geprägte Lebenssituation, in der sich die Mädchen zur Zeit der Aufnahme befanden. Diese Assoziationen werden durch die Texte der Mädchen bestätigt, die persönliche Gedanken und Reflexionen über ihre Lebensgestaltung, ihre Wunschvorstellungen und ihre Identifikation mit den jeweiligen medialen Vorbildern enthalten. An der Schwelle zum Erwachsenwerden und auf der Suche nach Stabilisierung der eigenen Identität orientieren sich die jungen Frauen in den fotografischen Reinszenierungen in den meisten Fällen an gesellschaftlich determinierten Stereotypen, die die abgebildeten Frauen repräsentieren. Dabei müssen Inszenierung und Authentizität in der Arbeit von Tina Bara einander nicht ausschließen, denn diese war von Beginn an von einem Interesse an der »Vermischung von Realität und Fiktion, Abgebildetem und Inszeniertem« sowie an der »Auflösung dieser scheinbaren Gegensätze« bestimmt. Auch ist die Serie nicht vorrangig als eine Kritik an massenmedialen Identifikationsfaktoren und Konstruktionen von Wunschvorstellungen zu sehen, also wie beispielsweise bei Richard Prince gegen die »Abnützungsphänomene der Mediengesellschaft« gerichtet. Vielmehr ist die Arbeit Tina Baras als sensible Auseinandersetzung mit dem Phänomen individueller Identitätsfindung zu sehen, die exemplarisch an einer Reihe einzelner Biografien von Mädchen erfolgt und damit eine übergeordnete, kollektive Bedeutung gewinnt. Bilder werden zu »Stellvertretern und nehmen Modellcharakter in Bezug auf die Realität an.« Ein psychologisches Interesse an der Dokumentation verbindet sie dabei mit einem subjektiv-unmittelbaren Zugang zu ihrem Gegenüber, dem Modell. Vergleicht man die Arbeiten Baras mit denen von Anett Stuth, so lässt sich feststellen, dass es sich um zwei polare Zugangsweisen an das selbe Thema handelt. Während die nackten Jugendlichen bei Stuth in ihrer privaten Umgebung völlig in ihrer eigenen (körperlichen) Realität abgebildet sind, bieten die Inszenierungen Baras den jungen Mädchen die Möglichkeit, ein Idealbild von sich zu erschaffen. Dennoch geht es in beiden Fällen um Fragen der Konstruktion von Identität und der Definition des Selbstbildes. Victor Burgin hat in diesem Zusammenhang auf die Affinität zu einer von Jacques Lacan untersuchten frühkindliche Entwicklungsphase hingewiesen: im sogenannten Spiegelstadium zwischen 16 und 18 Lebensmonat erkennt der Säugling, der seinen Körper bislang als bruchstückhaft erlebt hat, diesen als Ganzes im Spiegelbild: es gibt also auch hier eine »Korrelation zwischen der Formation von Identität und der Formation von Bildern«.

Valérie Belin

In großformatigen Schwarzweißfotografien nimmt Valérie Belin Gesichter Transsexueller auf. Der Ausschnitt ist bewusst eng gewählt und bleibt auf das Antlitz der Personen in strenger Frontalansicht beschränkt. Aus den überdimensionalen Proportionen resultiert ein Gefühl von Monumentalität, das im Zusammenspiel mit der hohen technischen Präzision und dem absoluten Verzicht auf Tiefenwirkung den Eindruck der unmittelbaren Präsenz des Abbildes im Raum hervorruft. Die Unsicherheit über die geschlechtliche Zuordnung der Porträtierten bewirkt zudem ein Gefühl der Irritation beim Betrachter. Das Konzept der Ausstellung »Gegenüber« thematisiert nicht nur die Beziehung zwischen den Fotograf:innen und dem Fotografierten, sondern auch die zwischen dem Betrachter und dem Abbild des Porträtierten, eine Komponente, die in den Arbeiten Belins besonders zum Tragen kommt. Die Bedeutung der Fotografie hänge »alleine von uns Rezipienten ab. Wir bestimmen, welche Form von Leben wir der Fotografie einhauchen. […] Grundsätzlich lässt sich sagen: Es ist letztlich nicht eigentlich am Foto selbst ablesbar, was echt, was gestellt, was inszeniert, was voyeuristisch und was anders ist, als das, was wirklich ist oder war. Immer hängt es von uns Betrachtern ab, das Mitkommentierte zu glauben oder ihm zu misstrauen.« In einer früheren Fotoserie beschäftigte sich Valérie Belin mit der Akkumulation von Glas-, Spiegel- und kristallinen Objekten, die durch die Schwarzweißtechnik und die extremen Lichtreflexe beinahe abstrakt anmutende Kompositionen entstehen ließen. Ebenfalls auf den speziellen Einsatz von Licht ist der metallische Glanz auf den Körpern der »Bodybuilders« zurückzuführen, die einen artifiziellen objekthaften Eindruck vermitteln. Dieses Irritationsmoment, das auf dem schmalen Grat zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, zwischen Leblosem und Lebendigem beruht, prägt auch das Erscheinungsbild der Porträtierten in der Serie der Transsexuellen, deren Gesichter maskenhafte Züge prägen.

Clement Cooper

In mehreren Fällen der in der Ausstellung vertretenen Positionen konnte man als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt ihrer künstlerischen Arbeit den eigenen biografischen Kontext erkennen (vgl. Nina Korhonen, Bernhard Fuchs). Clement Cooper verbindet in seinen Fotoarbeiten persönliche Betroffenheit mit einem übergeordneten gesellschaftspolitischen Anliegen. Das Medium Fotografie ist für ihn aufgrund seiner allgemeinen Verfügbarkeit und einfachen Zugänglichkeit ein »Werkzeug kultureller Demokratie«. Als Sohn einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters in einem Arbeiterviertel von Manchester aufgewachsen, erfuhr er bereits als Kind eine spezielle Form rassistischer Diskriminierung. Seine Kindheit war geprägt von dem Mangel an klarer ethnischer Zugehörigkeit und der Ablehnung, die ihm auf Grund dessen entgegengebracht wurde; Erfahrungen, die schließlich den Auslöser für sein Projekt der Porträtserien von sogenannten »Mixed-Race people« bildeten. Seine im klassischen Schwarzweiss-Verfahren hergestellten Aufnahmen vermitteln einen mit den Mitteln der Dokumentarfotografie operierenden, authentischen und selbstverständlichen Zugang zum Genre des fotografischen Porträts. »I just photograph what is there. The way I approach a photograph is so simple. I use simple equipment, simple darkroom techniques. I don’t invent things. I don’t put things in. I don’t try to manipulate the subject-matter. It’s all in front of me. I didn’t create these things. They are there.« Gleichzeitig ist die Arbeit von Clement Cooper von hoher Konzentration und eingehender Auseinandersetzung mit den Porträtierten geprägt. An der Serie »Deep«, die aus s/w-Porträts von mixed-race people aus multikulturellen Stadtteilen von Liverpool, Bristol, Cardiff und Manchester besteht, arbeitete Cooper über drei Jahre lang. Um ein Vertrauensverhältnis zu den Porträtierten aufzubauen, lebte und arbeitete er jeweils mehrere Monate in den betreffenden Städten. Die Fotografien vermitteln folglich auch einen Eindruck von den speziellen Charakteristika der Stadtlandschaft und der anonymen Architektur der in den Nachkriegsjahrzehnten erbauten Wohnanlagen am Rande englischer Städte.

Bernhard Fuchs

In Ganzkörper- oder Dreiviertelporträts nimmt Bernhard Fuchs Porträts von Menschen in ihrer unmittelbaren Lebensumgebung auf. Die Aufnahmen sind behutsam und harmonisch komponiert, wirken aber gleichzeitig natürlich und nicht inszeniert. 1993 begann Bernhard Fuchs bei Bernd und Hilla Becher an der Kunstakademie in Düsseldorf Fotografie zu studieren. Erst die damit verbundene geografische Veränderung ließ ihn den Blick zurückwerfen auf die Bewohner seine Mühlviertler Herkunft, ein Blick, der sehr sensible Porträts entstehen ließ und mit einer Neubestimmung der eigenen Identität einherging. Als besonderes Merkmal fällt in der Haltung und im direkten, offenen Blick gerade der Porträtierten aus dem ländlichen Umfeld ein selbstverständliches Sich-ihrer-selbst-Bewusstsein auf, eine möglicherweise nie bewusst reflektierte Gewissheit über die eigene Identität. Bernhard Fuchs will auf möglichst einfache Weise vieles von dem Wesen des Porträtierten und auch von sich selbst zeigen. Indem er in den Fotografien gleichzeitig auch seine eigene Herkunft thematisiert, also einen authentischen Zugang verfolgt, vermeidet er einen voyeuristischen, konstruierten Blick auf das »Andere«, in diesem Fall die ländliche Bevölkerung. Gängige Klischees und tradierte Vorstellungen vom »Landleben« und Heimatbegriff werden in den nüchternen Fotografien hinterfragt und der Blick auf das Individuum, auf das Charakteristische an der einzelnen porträtierten Person gelenkt. Seine Arbeit oszilliert zwischen der Darstellung von sozialer Gruppenzugehörigkeit und der Fokussierung der Individualität des Einzelnen. Der Wechsel von der Schwarzweiß- zur Farbfotografie bedeutete für Bernhard Fuchs eine Befreiung von der ausschließlichen, existenziellen Konzentration auf das Abbild des Menschen hin zu einer vermehrten Einbeziehung seiner Umgebung. Dementsprechend sind die Menschen in ihrer natürlichen Umgebung, in ihren Häusern, bei der Arbeit oder auf der Straße aufgenommen, was die Selbstverständlichkeit ihres Auftretens unterstützt. Obwohl der Hintergrund bewusst reduziert ist – oft stehen die Personen lediglich vor einer einfachen Hauswand -, lässt er atmosphärische Rückschlüsse auf die weitere Umgebung zu. Fuchs’ Großstadtporträts haben eine gewisse Nähe zu den Arbeiten von Anett Stuth, die in der Serie ortlos ebenfalls von Sachlichkeit geprägte Porträts von durchschnittlichen Menschen aufnimmt. Dennoch ist der Zugang, die Beziehung zum fotografischen Gegenüber bei Bernhard Fuchs von mehr Unmittelbarkeit und Vertrautheit bestimmt. Stuth wählte ihre Modelle für die Nacktporträts per Zeitungsinserat aus, die Menschen in ortlos waren Unbekannte, die sie auf der Straße ansprach. Bei Fuchs dagegen handelt es sich bei den Porträtierten um Menschen aus seinem unmittelbaren Lebensumfeld.

Rince de Jong

»Der Versuch, andere dazu zu bewegen, vor der Kamera ihre »natürliche« Haltung zu bewahren, erzeugt Verlegenheit: man kann in diesem Fall nichts anderes erwarten als eine fingierte Natürlichkeit, mit anderen Worten: einen theatralischen Ausdruck.« Dieser Vorgang des Posierens und der theatralischen Inszenierung prägte die klassische die Porträtfotografie von Beginn an, umgangen wird er gewöhnlich lediglich von der Schnappschussfotografie. Eine besondere Qualität der Arbeiten Rince de Jongs liegt aber gerade darin, dass es sich weder um Schnappschüsse handelt, noch um theatralische Inszenierungen. An ihren Modellen, Alzheimer-Patienten in einem Pflegeheim, schätzte sie vor allem die Tatsache, dass sie sich aufnehmen ließen, ohne zu posieren oder sich in Szene zu setzen. Aus dem unbewussten Verzicht auf Selbstdarstellung entstanden unmittelbare, authentische Bildformulierungen. Denn auch wenn der Großteil der Aufnahmen bewusst geplante, aufwändige Inszenierungen vermuten lässt, sind die meisten Fotografien tatsächlich aus alltäglichen Situationen heraus entstanden und wurden von Rince de Jong nur geringfügig manipuliert. Eine der wesentlichsten Voraussetzungen ihrer Arbeit besteht für Rince de Jong jedoch in der unmittelbaren Beziehung, die sie zu den Porträtierten und zu deren Lebensalltag und -umgebung aufbaut. Acht Jahre lang arbeitete sie bereits als Betreuerin in dem Heim, bevor die ersten Fotos entstanden. Eine Reihe sehr sensibler Aufnahmen folgten, meist handelt es sich um Gruppenporträts, die alltägliche und besondere Aktivitäten der Heimbewohner dokumentieren. Jeglicher Beigeschmack des Voyeurismus, des Pathos oder der Dramatisierung ist durch die selbstverständliche Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen der Fotografin und den Porträtierten ebenso ausgeschlossen wie mitleiderregende Konnotationen. Wenngleich manche der Fotografien dem Betrachter durchaus ein Schmunzeln entlocken, bleibt die Würde der Abgebildeten unangetastet. Die Überwindung von Distanz und das Gewinnen von Vertrauen und Nähe zu den Porträtierten ist neben Rince de Jong auch für Mette Tronvoll, Bernhard Fuchs und Clement Cooper von elementarer Bedeutung für die fotografische Arbeit. Seit zwei Jahren arbeitet Rince de Jong in einem Teilzeitjob als Betreuerin von Kleinkindern, denen sie ihre nächste Fotoserie widmen wird.

Leo Kandl

Kontinuierlich und konsequent beschäftigt sich Leo Kandl nun bereits seit mehreren Jahrzehnten mit dem Genre Porträtfotografie, indem er die Menschen dort beobachtet und aufnimmt, wo ihr Alltag außerhalb ihrer häuslichen Umgebung stattfindet. Die variantenreiche Form der Beziehung zwischen dem Fotografen und seinem Modell spielen bei den meisten der in der Ausstellung vertretenen Positionen eine bedeutende Rolle. Ähnlich wie Anett Stuth in ihrer Serie »Suche« stellte auch Leo Kandl den Kontakt zu seinen »Modellen« mittels Zeitungsannoncen her. Dem lapidaren Aufruf, der keinerlei Informationen über den Fotografen und den Kontext der weiteren Verwendung der Bilder beinhaltete, kamen erwartungsgemäß vorrangig jüngere, aufgeschlossene Menschen aus dem urbanen Raum nach. In verschiedenen städtischen Zentren, in London, New York, Wien, aber auch in Havanna, entstanden in der Folge Porträts im öffentlichen Raum, die zum Teil wie schnappschussartige Straßenaufnahmen oder private Fotografien wirken. Die Modelle bestimmen ihre Inszenierung selbst, Kleidung, Pose, Umgebung sind von ihnen gewählt. Der Fotograf agiert sehr zurückgenommen, erreicht aber dennoch eine unmittelbare expressive Qualität in den Arbeiten. Kandls fotografische Methode lässt Spielräume für emotionale Interaktionen, da das möglicherweise riskante Aufeinanderzugehen zweier unbekannter Personen im Rollenspiel Modell – Fotograf Bilder produziert, die von Neugier und gelegentlich subtil erotisch aufgeladener Atmosphäre gekennzeichnet sind. Über das Private, Individuelle hinaus gehend wird jedoch auch Allgemeingültiges ausgedrückt. Aussagen über soziale Zugehörigkeit und bewusste Konstruktionen von Individualität lassen sich aus verschiedenen visuellen Codes wie Kleidung, Accessoires oder aus der Form der Selbstinszenierung ableiten. Kandls Arbeiten verbinden eine konzeptuell-dokumentarische Vorgehensweise mit dem Interesse an Subjektivität und Individualität des Porträtierten.

Tomasz Kizny

Tomasz Kizny arbeitet seit 1998 an einer umfangreichen Serie von Portraits von U-Bahnpassagieren. In dieser Zeit hat er in Berlin, Warschau, Moskau und Paris etwa 1200 Aufnahmen von vorerst anonymen Reisenden gemacht. Dieses Jahr kommen noch Aufnahmen in New York und Tokyo dazu. Seine Absicht ist es, eine Galerie der Menschen an der Jahrtausendwende zu schaffen. Walker Evans, auf dessen Subway-Portraits der späten 30er Jahre sich Kizny bezieht, hatte seine Aufnahmen mit versteckter Kamera gemacht. Evans Portaits sind Menschenbilder einer anonymen Massengesellschaft der USA in der Zeit um den zweiten Weltkrieg. Wie flüchtig auch immer die Begegnung des Fotografen Tomasz Kizny mit seinen Mitreisenden auch ist, immer ist der Name und die Berufsbezeichnung der abgebildeten Person ein signifikanter Bestandteil der Aufnahmen. Diese soziologische Dimension des Projekts ist es auch, die Kiznys zweite historisch gewichtige Referenz begründen, nämlich auf August Sanders »Antlitz der Zeit«, nach gesellschaftlichen Gruppen systematisierte Portraits aus der Zeit der Weimarer Republik. Evans und Sanders Arbeiten sind nicht nur Meilensteine der Geschichte der Dokumentarfotografie, sondern darüber hinaus auch wesentliche historisch und politisch relevante Zeitzeugnisse zur Geschichte der USA bzw. Deutschlands. Im Verhältnis dazu ist Kiznys Werk weniger an der Darstellung eines bestimmten Orts orientiert. Nicht die Beschreibung der jeweiligen Welt oberhalb der U-Bahntunnels in den verschiedenen Städten ist für den Fotografen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sein Interesse ist ein komparatistisches: Er ermöglicht einen Vergleich der Gesichter und der Kleidung, der Gesten und Blicke, des jeweils vielleicht verschiedenen Habitus. Tomasz Kiznys Bilder von Menschen erlauben Rückschlüsse auf das unterschiedliche Leben in den Metropolen, in deren Untergrund die Bilder entstehen. Der zeithistorische Hintergrund, vor dem sich Kiznys Arbeit abspielt, ist neben Phänomenen der Globaliserung von Wirtschaft und Politik vor allem auch die Öffnung des ehemaligen Ostblocks und die damit einhergehende Veränderung der Alltagskulturen und Lebensstile. »In der U-Bahn begegnen einander Menschen verschiedener Nationalität, Profession, sozialer Stellung. Es ist eine bewegliche Portrait-Galerie. Die Wahl dieses Ortes hat eine metaphorische Bedeutung. Die im Titel genannten Passagiere reisen von Station zu Station, zwischen dem, was war, und dem, was kommt, zwischen Geschichte und Zukunft«, sagt Kizny über sein Werk.

Nina Korhonen

Erinnerung ist für Nina Korhonen ein wichtiges Element in ihrer künstlerischen Praxis. So stellte sie schon für ihr erstes Buchprojekt mithilfe von zwei jugendlichen Darstellerinnen Szenen aus ihrer eigenen Kindheit nach. In sehr stimmigen Schwarzweissfotografien versucht die Künstlerin hier die Magie eines Ortes gleichsam zu beschwören, der als Bühne dient, um sich selbst, wenn auch zeitversetzt, im anderen Gegenüber zu erkennen. Diese autobiografisch motivierte Spurensuche wird auch bei ihrem nächsten Projekt bestimmend sein. Diesmal ist es das Familienalbum ihres Großvaters, das den Anfang einer Bildgeschichte über eine ihr nahestehende Person aus dem Familienkreis, nämlich ihrer Großmutter Anna, bildet. Ausgehend von den vorgefundenen, farbigen Knipserbildern ihres Großvaters, entwickelt sie eine eigene Geschichte aus der Welt des »American way of Life«, in dessen Zentrum ihre 1959 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte Großmutter steht. Von 1994 bis 1999, den letzten Lebensjahren ihrer Großmutter, arbeitete Nina Korhonen an ihrem Zyklus »ANNA«. Dieser handelt von der Verwirklichung eines lang gehegten Wunsches ihrer Großmutter, die zweite Lebenshälfte in den USA zu verbringen. Im Alter von über vierzig Jahren, nachdem ihre eigene Familie in Finnland versorgt war, gelingt es ihr, sich diesen Wunsch zu erfüllen und sich in Finntown in Brooklyn niederzulassen. Als Haushälterin bei einer wohlhabenden Familie in Manhattan nimmt sie auch am wirtschaftlichen Erfolg Amerikas in einer prosperierenden Zeit teil, bis hin zum Erwerb eines kleinen Hauses in Florida. Als Nina Korhonen beschließt nach USA zu fahren und ihre Großmutter längerfristig mit ihrer Kamera zu begleiten, zeigt sich ihr eine selbstbewusste Frau von knapp achtzig Jahren, die »immer noch ein schöner, starker und sinnlicher Mensch ist« (Korhonen). Die Bilder, die entstehen, sind geprägt von Nähe und Vertrauen des Gegenübers, das sowohl Einblicke in sehr intime Momente des Lebens erlaubt, wie auch das Festhalten öffentlicher Alltagssituationen nicht scheut. In brillanten, großformatigen Farbfotografien entspannt sich ein Dialog zwischen zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen und findet seinen Niederschlag in einer vielteiligen Bildserie, die nicht nur durch eine gemeinsame Familiengeschichte geprägt ist (auch Korhonen hat vor gut zwanzig Jahren ihre finnische Heimat verlassen und lebt seitdem in Schweden), sondern auch durch die geschlechterspezifische Sehweise der Fotografin und ihrer Suche nach Identität. Die oftmals geradezu verblüffend wirkende, körperbetonte Selbstdarstellung der Großmutter zeugt von einer bis ins hohe Alter würdevoll behaltenen Sinnlichkeit. Der Auftritt der Großmutter im öffentlichen Raum, beim Einkaufen, aber auch in der Begegnung mit Freunden, zeigt exemplarisch, wie auch kulturelle Anna in ihrem persönlichen Umfeld im Sinne eines psychologisierenden Porträts gezeichnet, fügt sie sich in der Öffentlichkeit in etwas distanzierterer Form in die Ikonografie der neuen Heimat ein. Durch ein solches Wechselspiel gelingt Nina Korhonen so die Verschränkung von individueller und allgemeiner Lebensgeschichte.

Anett Stuth

Betrachtet man die Darstellung verschiedener Lebensphasen in der aktuellen künstlerischen Porträtfotografie, wie sie auch die Arbeiten der Ausstellung widerspiegeln, so lässt sich ein besonderes Interesse an Altersstufen erkennen, die gewöhnlich von entscheidenden Veränderungen geprägt sind. Psychologisch für die Identität des einzelnen gemeinhin als bedeutend angesehene Phasen wie Kindheit, Pubertät, Schwangerschaft / Mutterschaft, und ähnliches werden so zum Bildthema. Der gesellschaftspolitisch virulenten Problemstellung der Überalterung der westlichen Bevölkerung entsprechend, kam in den letzten Jahren das Thema des Alterns als Ausgangspunkt fotografischer Auseinandersetzung hinzu. In der Fotoserie »Suche« (2000) thematisiert Anett Stuth eben jene angesprochene Übergangsphase der Unsicherheit und Identitätssuche von Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ihr Gegenüber fand Stuth mittels Zeitungsannoncen, in denen sie Jugendliche für Nacktaufnahmen suchte. Die Nacktheit der Porträtierten verstärkt den Eindruck einer gewissen Orientierungslosigkeit und Fragilität, indem sie ihnen jegliche Möglichkeit einer zumindest oberflächlich-konstruierten Gestaltung ihrer Identität nimmt. Die wenigen abgebildeten Fragmente ihrer privaten Wohnumgebung lassen zwar einen Schluss auf den sozialen Hintergrund zu, bieten den Abgebildeten jedoch wenig Halt. Gesichtsausdruck und Körperhaltung lassen auf Befindlichkeiten und Gefühle zwischen labiler Unsicherheit und selbstbewusster jugendlicher Entschlossenheit schließen. In der 1996 entstandenen Serie »Ortlos«, Stuths Diplomarbeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, warf die Künstlerin ihren Blick auf Personen einer mittleren Altersstufe, die gewöhnlich nicht prädestiniert ist für lebensentscheidende Veränderungen. Die unauffällige Durchschnittlichkeit der Erscheinung der aufgenommenen Menschen lässt tatsächlich eine gewisse Monotonie ihrer Lebensumstände vermuten. Aufgenommen sind die Personen vor anonymen urbanen Architektursituationen, die ebenfalls von Gleichförmigkeit und Mediokrität gekennzeichnet sind. Teil der Serie sind außerdem stillebenartige Interieur-Fotografien der privaten Wohnsituation der Porträtierten. Zwischen der Kleidung der Menschen und der sie umgebenden Architekturen ergeben sich bisweilen seltsam anmutende Parallelen in Form- und Farbgestaltung. Dennoch entbehren auch diese Menschen nicht einer gewissen Unsicherheit in ihrem Auftreten, was mit der politischen Situation im Osten Deutschlands zu tun haben könnte. Gerade dieser mittleren Generation, die den Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht hatte, fiel es besonders schwer, sich nach der politischen Wende innerhalb einer drastisch veränderten Lebenswelt zurechtzufinden. Ähnlich wie bei Mette Tronvoll steht dieser subjektive Zugang zu den Porträtierten, der ein hohes Maß an Authentizität vermittelt, in spannungsvollem Kontrast zu einer sachlich-neutralen, beinahe dokumentarisch-konzeptuell anmutenden Form der Aufnahmen, die in beiden Fällen eine Affinität zur deutschen Porträtfotografie der letzten Jahrzehnte (Thomas Struth, Thomas Ruff) erkennen lassen. Von präziser Sachlichkeit und dokumentarischer Beobachtung ist auch die fotografische Arbeit von Timm Rautert bestimmt, dessen Meisterklasse Anett Stuth an der Hochschule in Leipzig besuchte.

Mette Tronvoll

Die Arbeit »Double Portraits« ist eine Serie von Diptychen, die aus je zwei Aufnahmen der selben Person bestehen. In Tronvolls New Yorker Atelier entstanden bei Tageslicht jeweils etwa 40 Aufnahmen einer Person, aus denen die Künstlerin zwei auswählte. Obwohl oder eben weil diese nur minimale Differenzen aufweisen, evozieren sie beim Betrachter eine unmittelbare Konzentration auf vergleichende Wahrnehmung. Dabei lassen sich feine Variationen und Nuancen in der Körperhaltung sowie im Gesichtsausdruck der Porträtierten erkennen. Der neutrale, lediglich durch den Lichteinfall leicht changierende Hintergrund, die einfache Kleidung und der beinahe emotionslose Gesichtsausdruck der Porträtierten verleihen den Aufnahmen einen sachlich-dokumentarischen Charakter. Der Vorgang der Aufnahme in den Doppelporträts hat insofern eine gewisse Affinität zum Entstehen der frühesten Porträtfotografien, als damals die Modelle oft stundenlang in ein und derselben Pose verharren mussten. Man meint beim Vergleich der beiden Bilder in einigen Fällen tatsächlich eine latente Ermüdung in Blick und Haltung, vor allem aber gewisse Schwierigkeiten im Aufrechterhalten der gewählten Pose zu erkennen. Die Pose entspricht dem Bild, das der Porträtierte von sich hinterlassen möchte, das jedoch nur für den Augenblick funktionieren kann. Gerade diesen entscheidenden Moment, gewöhnlich eine Determinante der Fotografie, versucht Mette Tronvoll zu unterlaufen, indem sie ein zweites Bild hinzustellt. Obgleich im Medium traditioneller Atelierfotografie entstanden, gewinnen ihre Arbeiten somit filmische Qualität, indem sie wie zwei Stills aus der selben Szene erscheinen. »Die Pose wird von der ununterbrochenen Folge der Bilder beseitigt und geleugnet.« Diesen – nach Barthes – elementaren Unterschied zwischen Fotografie und Film stellt Tronvoll in den »Double Portraits« gewissermaßen in Frage. Gleichzeitig sind Tronvolls Arbeiten – und das gilt für die Doppelporträts im besonderen – »ein Austausch zwischen Anschauen und Angeschautwerden«. Die Ausstellung »Gegenüber« thematisiert diesen Austausch, der einerseits eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen Fotografierendem und Porträtiertem voraussetzt, andrerseits aber auch das Verhältnis zwischen dem Betrachter und dem Porträtierten meint, in verschiedenen möglichen Varianten. Dabei ist die Frage von Nähe oder Distanz zu den Porträtierten in einem Großteil ausgestellten Arbeiten von Bedeutung. Mette Tronvoll hatte lange Zeit ausschließlich im Studio mit Bekannten und Freunden gearbeitet. Als sie für die in Grönland entstandene Serie »Isortoq Unartoq« erstmals mit Fremden arbeitete, ging dieser Arbeit eine intensive Beschäftigung mit den Menschen und ihren extremen Lebensbedingungen voraus. Die Serie der Doppelporträts beinhaltet auch ein Selbstporträt der Künstlerin. Während jedoch das Selbstporträt in der zeitgenössischen Fotografie vorrangig als Mittel künstlerischer Selbstinszenierung fungiert, erscheint es bei Mette Tronvoll lapidar als Teil einer Serie, ohne innerhalb dieser eine Sonderstellung einzunehmen.

Kuratiert von Martin Hochleitner, Gabriele Spindler, Rainer Iglar, Michael Mauracher
Mit freundlicher Unterstützung von Institut Français d'Innsbruck, The British Council, Mondriaan Foundation
In Kooperation mit Landesgalerie Linz