Karaoke
Anja Manfredi, Becky Beasley, Cédric Eisenring, Aneta Grzeszykowska, Thomas Julier, Nico Krebs, Ryan McGinley, Taio Onorato, Clunie Reid, Oliver Sieber, Thomas Galler
So oder ähnlich schon gesehen? Ungezählte Reize, Informationen und Bilder prasseln auf uns ein: In der Schule oder im Beruf, in Zeitschriften oder im Internet. Sie alle sind von einer Vielzahl unterschwelliger Codes beeinflusst. Mehr oder weniger erfolgreich navigieren wir in Wort und Bild täglich zwischen subtilen Werbebotschaften und harten Fakten, zwischen behördlichen Warnungen und privaten Kurzmitteilungen. Neben den klassischen gewähren wir natürlich auch den neuen Medien mit ihren ausufernden Angeboten unsere ganze Aufmerksamkeit. Aus dem Blick gerät, dass wir vermehrt von einer »zweiten«, einer medialen Realität durchdrungen sind, die wir nicht mehr als direkt Beteiligte erfahren.
Die Ausstellung mit Werken von Becky Beasley (GB), Thomas Galler (CH), Aneta Grzeszykowska (PL), Thomas Julier (CH), Cédric Eisenring (CH), Anja Manfredi (A), Ryan McGinley (USA), Taiyo Onorato / Nico Krebs (CH/CH), Clunie Reid (GB) und Oliver Sieber (D) untersucht das enge Geflecht von Erlebtem und Nacherlebtem, von direkt und vermittelt Gesehenem, Erfahrenem, und zeigt auf, wie wir uns heute ganz selbstverständlich in parallelen Welten bewegen. Aus dem Wechselspiel eines gegebenen Fundus und der eigenen Originalität schöpft diese junge Generation von Bildermachern ihre Inspiration und besetzt ein neues Terrain in der künstlerischen Fotografie der Gegenwart. Der Begriff Karaoke steht dabei als Sinnbild für eine gewisse Lust am Zitieren, am Austesten von bekannten Mustern und Vorgaben. Melodien und Texte werden in der von Daisuke Inoue 1971 erfundenen Karaokemaschine erst zaghaft, dann selbstbewusster vorgetragen. Ernst und Ausgelassenheit liegen in dieser populären Form des hierarchiefreien Miteinanders sehr nah beieinander. Aus Nachsingen wird Interpretation, aus Kopien werden Neuschöpfungen.
Aneta Grzeszykowska, Anja Manfredi, Becky Beasley, Thomas Julier
Aneta Grzeszykowska (*1974), Anja Manfredi (*1978), Becky Beasley (*1975) und Thomas Julier (*1983) ist es mehr als bewusst, dass sich ihre Arbeit jeweils nahe an Werken von Künstlern situiert, die bestimmte künstlerische Dogmen durchbrochen und Freiheiten erkämpft haben. Cindy Shermans 70-teilige Werkgruppe »Untitled Film« »Stills« gilt noch heute als die markanteste Position der postmodernen Kunst um 1980 und als feministisch geprägte Reflexion der Medienrealitäten überhaupt. In monatelanger Detailarbeit adaptierte Aneta Grzeszykowska im Jahre 2005 jedes einzelne Sujet dieses Meilensteins der neueren Kunstgeschichte, der in unzähligen Ausstellungen, Essays und Thesenpapieren mittlerweile selbst zum Kanon gereift ist. Wenn Anja Manfredi auf geschichtliche Highlights des modernen Ausdruckstanzes aus den 1930er Jahren zurückblickt und mit heutigen Tänzern herausragende Schlüsselwerke dieser Zeit von Isadora Duncan oder Anna Pavlova für ihre Kamera nachinszeniert, so ist das – ähnlich wie bei den Bild-Aneignungen von Aneta Grzeszykowska – als ein Neuentwurf, eine Neubefragung in der Gegenwart zu verstehen.
Becky Beasley
Becky Beasleys skulpturale Schwarzweiss-Fotografien wie »Peel (Floor) und Peel (Wall)« erinnern in ihrer Vitalität an frühe Blei-Performances von Richard Serra, bei denen geschmolzenes Metall an Ausstellungswände geschleudert wurde. Beasley präsentiert ihre kraftvollen Großabzüge in ähnlich energetischen Aggregatzuständen, mal ungeschützt als matten Fotoabzug, mal aseptisch versiegelt hinter kaltgrünem Acrylglas. Während in »Curtains I-III« drei fast identische Vorhänge abgebildet sind, die den manchmal quälend langsamen Schaffensprozess des Komponisten Glenn Gould zum Thema machen, arbeitet Beasley in Trap mit sehr leisen Verweisen und Bezügen und legt eine visuelle Spur zur Performance »Untitled (Tea Party)« von Bas Jan Ader, die der Konzeptkünstler 1972, ähnlich wie Beasley heute, ausschließlich für die Kamera in Szene gesetzt hat.
Thomas Julier, Cédric Eisenring
Thomas Julier schlägt eine ähnliche Brücke zu den Konzeptualisten der späten 1960er Jahre, wenn er (allein oder in Zusammenarbeit mit Cédric Eisenring) seinen enormen künstlerischen Output in kleinen kopierten Spiralheften zusammenfasst. Als gleichwertige Bildform entstehen für die Wand »arme« Arbeiten von spröden Stadtarchitekturen und mehrdeutigen Naturformen, die an Typologien von Bernd und Hilla Becher oder an lakonische Bildreihen von Ed Ruscha und Sol LeWitt erinnern. Leicht entrückt, frech, und doch entschieden lassen Juliers serielle Abtastungen in der Gegenwart ihre historischen Vorbilder hinter sich.
Thomas Galler
Aus der immensen Flut von Medienbildern trägt Thomas Galler (*1970) nach klaren Suchbegriffen Bild- und Wortzitate zusammen und arrangiert sie zu neuen Bedeutungsfeldern. Ihn faszinieren Begriffe wie Tod, Gewalt und Protest in den unterschiedlichsten Kulturen, und auch, wie diese mit fast identischen Bildern visualisiert werden. Auf überzeugende Weise zelebriert der Künstler in der neuen 5-teiligen Videoarbeit »Week End (IDF Series)« eine neue populäre Bildform aus dem Internet. Thomas Galler bündelt einige hundert Schnappschüsse junger israelischer Soldatinnen, die sich in ihrer Freizeit selbst inszenieren und diese Fotos anschließend in Online-Portalen veröffentlichen. Ihre Posen sind aus Videoclips auf MTV und Viva hinlänglich bekannt und werden als visuelle Messages im MMS- oder Videoformat auf Mobiltelefonen zigtausendfach täglich hin- und hergetauscht.
Clunie Reid
Anders als Thomas Galler, der seine Bildquellen meist ohne Eingriffe übernimmt, lädt Clunie Reid (*1971) gefundenes Bildmaterial mit selbstverfassten Slogans und polemischen Kommentaren auf. Die Londoner Künstlerin schöpft dabei aus einem riesigen Alltagsarchiv von Bild- und Textfragmenten verschiedenster Medien. Randnotizen, Schlagzeilen oder Illustrationen aus Boulevard und Wissenschaft collagiert sie dabei zu spannungsgeladenen Bildschöpfungen, die sie in der Ausstellung zur mehrteiligen Wandinstallation »Take no photographs, leave only ripples« zusammenführt. Mit manchmal zynischem Unterton entstehen Werke, die sich niemals über das Leben selbst erheben und ihre Wurzeln nicht verleugnen.
Taiyo Onorato, Nico Krebs
Mit eindeutigen Bezügen zur Fotografie-, Literatur- und Musikgeschichte gehen Taiyo Onorato und Nico Krebs (*1979/*1979) ans Werk. Auf ihrem Roadtrip durch die Vereinigten Staaten fanden sie viel bereits Gesehenes, das sich im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts ausführlich zum Go West-Mythos verdichtete. The Great Unreal basiert auf genau diesem Mythos und erschafft dennoch brüchige Bilder eines heutigen Amerikas, das seine Identität neu erfinden muss.
Ryan McGinley, Oliver Sieber
Ryan McGinley (*1977) und Oliver Sieber (*1966) verbindet schließlich das Interesse an Jugendkulturen, die Lebensgefühle von früheren Generationen nachzuempfinden suchen. Während die entgrenzten Gestalten in Ryan McGinleys Fotografien in kraftvollem Farbrausch entschweben, dechiffriert Oliver Sieber feine Codes und Bedeutungsebenen einer überschaubaren Szene von Japaner:innen, die sich im Stile des Rockabilly, des Psychobilly oder der Skinhead-, Mods- oder Punkkultur kleiden. Im Verweis auf eine eigentlich fremde Kultur haftet den »J_SUBS« von Oliver Sieber ein idealistisches Weltbild an, das seine Bezüge in der Vergangenheit findet, während es in der Gegenwart gelebt wird.